Ein Glas in Ehren? Alkohol im beruflichen Umfeld zwischen Kultur und Risiko
- Juliane Götze
- 6. Juni
- 3 Min. Lesezeit
Ich bin Winzerstochter. Wein war bei uns nie tabu, sondern Teil des Alltags - mit großer Selbstverständlichkeit, Neugier, aber auch Respekt. Zum Essen, bei Festen & Feiern oder im Gespräch. Wein gehörte einfach dazu. Später habe ich mit meinem eigenen Label SKYLINEWINES auch beruflich mit Wein gearbeitet. Genuss, Ästhetik, Herkunft - das waren Themen, die ich mit Leidenschaft vertreten habe.
Und auch im Berufsalltag war es für mich nie ungewöhnlich, bei Geschäftsessen oder Empfängen ein Glas Wein anzunehmen. Es gehörte zur Etikette, zum Netzwerken, manchmal zur Strategie. In diesen Momenten habe ich mich sicher gefühlt, souverän, selbstbestimmt.

Was ich lange nicht gesehen habe: Wie tief Alkohol in unserer beruflichen Kultur verankert ist - und wie schmal der Grat ist zwischen Zugehörigkeit und Grenzüberschreitung.
Zwischen Normalität und Erwartung
Wer beruflich viel unterwegs ist - auf mehrtägigen Dienstreisen, Messen, Abendveranstaltungen, Business-Dinners - kennt die Situationen: Ein Glas zum Anstoßen, ein weiteres zum Gespräch, eine Flasche, die man nicht leer zurückgehen lassen will. Und oft das Gefühl: Wenn du jetzt ablehnst, bist du raus. Oder zumindest nicht mehr richtig dabei.
Gerade für Frauen ist das ein doppeltes Spiel. Trinkt man mit, ist man „locker“, manchmal zu locker. Trinkt man nicht, wird man schnell zur Spielverderberin. Zwischen Anpassung und Abgrenzung bleibt wenig Raum für echte Wahlfreiheit.
Ich habe mich lange in dieser kulturellen Selbstverständlichkeit bewegt. Bis zu jenem Abend Ende Juni 2024.
Wenn Alkohol zur Waffe wird
Es war ein Geschäftsessen. Ein Partnerunternehmen. Ein informeller Rahmen - einer von vielen. Und doch war es dieser eine Abend, der alles verändert hat. Alkohol floss. Nicht übermäßig, aber gezielt. Ich weiß heute: Es war eine Strategie. Eine Methode, um Kontrolle zu verlieren. Und um mich gefügig zu machen.
Was danach geschah, ist ein Bruch. Ein Bruch in meiner Geschichte, in meinem Vertrauen - und in meinem Glauben daran, dass wir in beruflichen Kontexten geschützt sind, wenn wir uns professionell verhalten.
Ich frage mich seither: Hätte mich eine Richtlinie geschützt? Hätte eine klare Regel zum Umgang mit Alkohol auf Geschäftsreisen oder bei beruflichen Abendessen zumindest ein Signal gesetzt, dass hier andere Maßstäbe gelten als im privaten Raum?
Vielleicht hätte es nicht verhindert, was geschah. Aber vielleicht hätte es mir in dem Moment auch nur die Sicherheit gegeben, mein Glas abzustellen (das vermutlich nicht nur Wein enthielt, sondern auch etwas, das mich betäuben sollte), ohne Angst, unhöflich oder unprofessionell zu wirken.
Zwischen Freiheit und Verantwortung
Ich möchte kein Plädoyer für Verbote halten. Alkohol hat - gerade im beruflichen Kontext mit internationaler Vernetzung - auch eine kulturelle Dimension. Er kann verbinden, Gespräche öffnen, Nähe schaffen. Aber genau darin liegt auch die Gefahr.
Was es braucht, ist nicht ein generelles Alkoholverbot bei Firmenveranstaltungen. Was es braucht, ist Verantwortung. Bewusstsein. Und einen geschärften Blick dafür, wie schnell der Grat zwischen Lockerheit und Grenzüberschreitung überschritten werden kann.
Unternehmen können hier mehr tun, als nur Richtlinien aufzusetzen. Sie können Haltung zeigen. Sie können Räume schaffen, in denen es selbstverständlich ist, NEIN zu sagen - ohne sich erklären zu müssen. Räume, in denen Gastgeber mitdenken, nachfragen, aufmerksam bleiben.
Mein persönliches Fazit
Heute trinke ich defintiv weniger Wein oder andere alkoholische Kaltgetränke als früher - und vor allem bewusster. Ich achte sehr viel genauer darauf, in wessen Gesellschaft ich das tue. Denn selbst in vermeintlich geschützten Umfeldern können Dinge passieren, die sich - erst recht mit Alkohol im Spiel! - nicht mehr kontrollieren lassen.
Ich werde den Moment nicht vergessen, in dem mir bewusst wurde, wie leicht dieser scheinbare Genuss zur Gefahr werden kann. Es geht nicht um Verzicht. Es geht um Schutz. Um Selbstachtung, und um ein klares Gespür dafür, wem ich mich wirklich anvertrauen möchte, mit oder ohne Glas in der Hand.
Ich wünsche mir eine Arbeitswelt, in der niemand trinken muss, um dazuzugehören. In der ein „Nein, danke“ nicht als Schwäche gelesen wird. Und in der niemand Alkohol instrumentalisiert, um Macht auszuüben oder Menschen zu manipulieren.
Nicht jeder Schluck ist gefährlich. Aber wir sollten niemals vergessen: In den falschen Händen kann auch ein Glas Wein zu viel sein.
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